Zum Inhalt springen

Geburt von Noah

Dieses Thema bewerten


Empfohlene Beiträge

Geschrieben

Querfüßlein oder die Geburt eines Schatzes

Geheult habe ich Rotz und Wasser als ich zusehen musste wie seine Beine eingegipst wurden. Diese kleinen Beinchen die gerade drei Tage alt waren mussten eingegipst werden. Ich konnte den Anblick und das hilflose Zuschauen nicht ertragen. Kurz bevor ich wohl vom Stuhl gefallen wäre, fragte mich der Arzt, der wohl meinte er spräche mit einer Kalkwand: Stefan geht es Dir gut? Da konnte ich es nicht mehr an mir halten. Es brach aus mir hervor wie Sturzbäche überrollte mich von innen heraus entlud sich in bitteren Tränen. All die Angst um meinen kleinen Jungen die ich bisher tapfer hinter einer halbwegs coolen Fassade verstecken konnte all die Erinnerungen an einen Vater, der eine Ewigkeit in Gips lag und nie wieder richtig laufen konnte, brachen aus mir heraus. Zu meiner Entschuldigung - wieso brauchen Männer eigentlich immer eine Entschuldigung wenn sich ihre Gefühle in einem Meer von Tränen entladen - sagte ich dennoch irgendwann: Als ich neun war hatte mein Vater einen Verkehrsunfall bei dem ich dabei war. Danach lag er ein halbes Jahr in Gips für mich damals eine Ewigkeit und musste dann querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzen. Nur auf Kücken kann er noch laufen. Er hatte Glück im Unglück. Es hätte ihn weitaus schlimmer treffen können damals... Für mich war er allerdings als Vater weitgehend verschwunden erst im Krankenhaus dann im Rollstuhl. Erst nach Jahren tauchte er wieder auf.

Ich weiß, dass mein Junge nicht querschnittsgelähmt ist. Bereits unmittelbar nach seiner unglaublich schönen und sanften Geburt hatte uns die Hebamme auf seine Füßchen aufmerksam gemacht. Einen Moment lang dachte ich das werde sich schon richten und würde nur mit der Geburt zusammenhängen oder er hätte die letzten Tage in dem immer enger werdenden Bauch diese Stellung eingenommen um überhaupt Platz zu haben. Und alles wäre in ein paar Tagen vergessen. Doch die Hebamme zog uns diesen Zahn sofort: Die Füße sind schief gestellt. Man wird sie richten müssen durch Krankengymnastik und Gips. Sie werden wieder gut werden, aber das wird dauern. Später hörten wir, dass es bis zu seinem 14. Lebensjahr von besonderer Bedeutung sein wird auf seine Füße zu achten diese kleinen süßen Querfüßchen wie wir sie nennen, deren Zehen knapp aus dem Gips herausschauen - über lange Wochen wird das die einzige Möglichkeit sein diese Füßchen zu streicheln, ihnen etwas abzugeben von unserer Liebe für diesen kleinen Kerl.

Noch am Tage zuvor hatte ein Freund uns gemailt, dass dieses Kind ein ganz besonderes sein würde und unsere ganze Ruhe und Kraft in Anspruch nehmen würde und dass wir viel von ihm lernen würden. Ja unser kleines Querfüßchen ist ein ganz besonderes Kind: Er ist der erste von unseren Sechsen der einfach mal so über den Termin gegangen ist, zwar nur mit einem Tag, aber es hat gereicht unsere ungeduldige Familie den ganzen Januar über in Atem zu halten. Er hat diese Zeit gebraucht. Wer sonst hätte all die Bücher und Hefte, Stifte und Spielsachen wegräumen sollen, die die anderen fünf Kinder für das jeweils nachgeborene Kind im Bauch haben liegen lassen wie unsere heute fast zwölfjährige jüngste Tochter vor knapp vier Jahren anlässlich der Geburt ihres ersten Brüderchens bekanntgab. Drei Schwestern und zwei Brüder müssen eine reiche Bibliothek in Mamas Bauch angesammelt haben...Und er ist etwas Besonderes. weil er einer von Tausend ist, derjenige der mit zwei Klumpfüßen geboren worden ist. Klumpfüße - welch furchtbares Wort für die munteren Querfüßchen unseres Jüngsten deren Zehen selbst am Ende des Gipses noch anzeigen welche Kraft der kleine Kerl in seinen Beinen hat. Und er ist ein besonderes Kind weil er ganz ohne irgendwelche Hilfsmittel ganz sanft auf unsere Welt gekommen ist und uns sofort vom ersten Augenblick an mit wachen Augen musterte und unseren Stimmen lauschte, die er wohl wieder erkannte aus seiner Zeit in Mamas Bauch.

Eigentlich wollten wir nicht schon wieder Alarm geben an jenem Sonntagabend. Zu oft hatten stärkere und schwächere Wehen uns in den letzten Wochen in Atem gehalten die dann irgendwann ganz sanft scheinbar ergebnislos verweht waren. Auch war die Reportage "Berlin-Jerusalem", die gerade im Fernsehen lief, zu interessant um loszufahren. Allerdings setzten die ersten furchtbar ignoranten Äußerungen zufälliger Passanten zum Holocaust-Mahnmal in Berlin die Wehen dann doch in Gang - so waren sie wenigstens zu etwas Gutem nütze, wenn sie uns sonst unter normalen Umständen nur in einen Zustand lähmender Angst versetzt hätten.

Gegen halb zwölf fuhren wir dann also los zum Krankenhaus wo wir gegen Mitternacht ankamen. Und die Wehen waren weg. Doch blinder Alarm! Die Hebamme führte uns in das Geburtszimmer mit der Badewanne und begann mit ein paar Untersuchungen. CTG - wie stark sind die Wehen, Bauchabtasten - wie liegt das Kind. Und sprach mit uns über das Ereignis, das uns allen bevorstand. Wir fühlten uns etwas unsicher, insbesondere Anneka meine Frau war sich überhaupt nicht mehr sicher, ob das Kind heute nacht kommen sollte oder nicht. Keine Wehe weit und breit. Aber die Hebamme entgegnete: Das ist ganz normal. Wenn man ins Krankenhaus kommt sind die Wehen erstmal weg. Die Umgebung ist ungewohnt. Man ist angespannt irritiert vielleicht wie jetzt um Mitternacht müde. Sie solle ein wenig herum laufen, reden, einen Schluck von dem Yogatee trinken, den Friederike unsere Freundin und Noahs künftige Patentante mitgebracht hatte. Dann nachher setzt Du Dich mal hier in diesen Sessel und wir machen noch ein CTG. Und ich geh erstmal nach draußen wenn Ihr mich braucht ruft Ihr mich.

Erneut etwas irritiert sahen wir uns an: Bei allen anderen Geburten wurde immer überpüft, wie weit der Muttermund schon offen sei. Nicht dieses Mal. Und kaum war die Tür hinter Karin geschlossen als Wehen einsetzten kräftige Wehen vorn und hinten die mit starkem Zug nach unten zogen, so jedenfalls beschrieb es mir Anneka. Sie stützte sich mit beiden Armen auf das Bett. Ich hielt mit der anderen Hand ihren Unterbauch ganz tief unten dort wo die Wehe wohl am stärksten ziehen musste und blieb mit der anderen Hand in der Nähe ihres Gesichts streichelte, liebkoste sie, sprach ihr Mut zu und bestimmt auch Kraft. Friederike massierte ganz leicht den Rücken mit einem wunderbaren Öl, das den ganzen Raum in einen sanften Duft hüllte. Anneka selbst bewegte sich dabei, wippte hin und her, ging auf die Zehenspitzen, schlug in die Kissen, wenn der Schmerz nicht mehr zu ertragen war. Nun plötzlich kamen die Wehen schon aller paar Minuten. Kaum war eine vorbei merkte sie schon die nächste heranrollen und das Spiel der Kräfte begann von neuem. Wir Drei - Anneka, Friederike und ich - waren gemeinsam dabei Noah den Weg auf diese Welt zu ebnen. Eine wahnsinnige Kraft schwang im Raume, die sich in den immer stärker werdenden Wehen äußerte.

Nach einiger Zeit kam unsere Hebamme wieder in den Raum und schlug vor doch jetzt in die Badewanne zu steigen. Anneka war dankbar dafür wollte sie doch schon seit einiger Zeit in die Badewanne, wo die Wärme des Wassers die Schmerzen nicht verebben ließ wohl aber sie bewusster erleben ließ, als das was sie waren - Wehen, einen Schmerz der einen Sinn hatte, nämlich unseren Noah auf die Welt zu bringen. Wieder waren es nur Sekunden die eine Wehe von der anderen trennten. Wieder war ich es, der ihr den Unterbauch hielt und die Arme stützte. Wieder massierte Friederike den Rücken. Und wieder waren einige Wehenwellen über uns hinweg gebraust durch uns hindurch gebraust, als Anneka beschloss nicht im Wasser zu entbinden und aus der Badewanne herausklettern um sich auf das Bett zu legen ich mich daneben ihr wiederum den Bauch haltend und mit der anderen Hand konnte ich ihr Gesicht streicheln und ihr gleichzeitig einen Ellenbogen zum Festhalten bei den Presswehen anbieten, die nun unmittelbar bevorstehen mussten. Mein Mund war noch frei um sie zu liebkosen, ihr Mut und Kraft zuzusprechen.

"Wann soll ich pressen?" fragte Anneka. Press, wenn Du denkst, dass es Zeit ist, antwortete die Hebamme. Darf ich pressen, fragte sie mit fragendem Blick auf mich. Ja, Du darfst antwortete ich. Und sie presste. Bei der zweiten Presswehe durchstieß eine Pampelmuse das Tor - Noahs Kopf - kurz danach eine zweite - Noahs Körper. Ich sah dass er die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte. Mit geschicktem Griff nahm Karin sie weg und ließ den kleinen Körper weiter aus dem großen Mutterkörper herausgleiten. Das ergab in Annekas Empfindung zwei Pampelmusen. Auch darin war dieses Kind etwas Besonderes: Noch gar nicht richtig auf der Welt, hat er schon das erste lebensbedrohliche Hindernis hinter sich gelassen, die Nabelschnur.

Der kleine Noah lag nun auf dem Bauch seiner Mutter Papas wärmende Hand auf dem Rücken Mamas auf dem Po und daüber ein warmes Handtuch. Nach einer Weile drehten wir ihn um. Und nach einer weiteren Weile zeigte die Hebamme uns die Füßchen unsere lieben kleinen Querfüßchen, die wir erst viel später begreifen würden. Anneka weinte leise. Ich streichelte ihr Gesicht und küsste sie und den kleinen Noah in seiner Käseschmiere, dem ersten Kleid der Neugeborenen. Typisch Mann, brachen sich meine Angst, meine Schmerz, meine Trauer aber auch mein Glück, meine Freude und mein Stolz erst Tage später Bahn...

Stefan

Dein Kommentar

Du kannst jetzt schreiben und Dich später registrieren. Wenn Du ein Konto hast, melde Dich jetzt an, um unter Deinem Benutzernamen zu schreiben.

Gast
Auf dieses Thema antworten...

×   Du hast formatierten Text eingefügt.   Formatierung jetzt entfernen

  Nur 75 Emojis sind erlaubt.

×   Dein Link wurde automatisch eingebettet.   Einbetten rückgängig machen und als Link darstellen

×   Dein vorheriger Inhalt wurde wiederhergestellt.   Editor leeren

×   Du kannst Bilder nicht direkt einfügen. Lade Bilder hoch oder lade sie von einer URL.

  • Wer ist Online   0 Benutzer

    • Keine registrierten Benutzer online.
  • Seit 1997 helfen wir den Müttern,

    ❤️ Hallo ❤️

    Es scheint, dass Dir unser Forum gefällt, aber du bist noch nicht angemeldet.

    Wenn du ein Konto eröffnest merken wir uns deinen Lesefortschritt und bringen dich dorthin zurück. Zudem können wir dich per E-Mail über neue Beiträge informieren, falls Du es willst. Dadurch verpasst du nichts mehr. Du wirst merken, dass die Diskussionen hier viel tiefer gehen und Du längere Beiträge zu einem Thema lesen kannst. Auch kommst Du in verschlossene Bereiche rein und kannst die Clubs besuchen. Diese Themen verschwinden auch nicht und DU entscheidest, was Du lesen willst und kein Algorithmus.

    Falls Du übrigens keine Email von uns bekommst, schau im Spam Bereich nach oder nimm Kontakt mit uns über das Kontaktformular auf.
    Es kann 24h dauern bis wir dich freischalten. Du musst Deine Email bestätigen, sonst dürfen wir Dich nicht in das Forum lassen.

    Wenn Du schon ein Benutzerkonto hast, melde Dich bitte mit Deiner Email an, um mit Deinem Konto zu schreiben und echte Freundinnen zu finden.

  • Diese Seite empfehlen

    Dir gefällt Adeba - Dein Familienforum? Empfehle die Seite weiter!
×
×
  • Neu erstellen...

Wichtige Information

Wir haben Cookies auf Deinem Gerät platziert. Das hilft uns diese Webseite zu verbessern. Du kannst die Cookie-Einstellungen anpassen, andernfalls gehen wir davon aus, dass Du damit einverstanden bist, weiterzumachen.